Neuer Wirkstoff lindert neuropathischen Schmerz

19.12.2016

Bei Menschen, die an Nervenverletzungen oder Erkrankungen wie der diabetischen Neuropathie leiden, kann die leichteste Berührung heftigen Schmerz auslösen. Ein Forschungsteam am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) hat nun einen Weg gefunden, wie sich der Schmerz bei Mäusen durch Injizieren eines neu gefundenen chemischen Wirkstoffs in die Haut unterdrücken lässt. Die Substanz hemmt einen Ionenkanal im Nervensystem, der verantwortlich ist für die Wahrnehmung leichten mechanischen Drucks. Nach Verletzungen führt eine Aktivierung dieses Kanals auch zu Schmerzen. Die neue Substanz lässt diese Art von neuropathischen Schmerz verschwinden. Die Methode könnte auch beim Menschen funktionieren.

Die Injektion eines Anästhetikums, wie beim Zahnarzt, betäubt das umliegende Gewebe. Oft ist dies auch der einzige Behandlungsansatz für Menschen, die an einer schmerzhaften Überempfindlichkeit leiden, wie sie häufig bei Nervenschädigungen auftritt. Anästhetika, die alle Funktionen mechanorezeptiver Nervenendigungen blockieren, unterdrücken zwar die Schmerzen – sie bewirken aber auch, dass andere, wichtige Reizwahrnehmungen unterdrückt werden.

Schmerzhafte mechanische Reize unterdrücken

Im Forscherteam von Prof. Gary Lewin an MDC und Charité haben nun die Cécile-Vogt-Stipendiatin Dr. Kate Poole, Dr. Christiane Wetzel und ihre Kollegen in Zusammenarbeit mit der Screening-Plattform EU OPENSCREEN, die vom MDC und dem Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) gemeinsam betrieben wird, einen neuen Wirkstoff identifiziert, der neuropathische Schmerzen behandeln kann, ohne andere, wichtige Sinneswahrnehmungen zu stören.

Sehr leichte Berührungen werden von molekularen Sensoren in der Haut detektiert, wie dem Ionenkanal namens „Piezo2“. Diese Kanäle verhalten sich wie winzige Ventile in der Membran von Nervenzellen, die sich bei Beanspruchung durch Bewegungen der Haut öffnen: sie öffnen sich, wenn die Haut leicht berührt wird. Im geöffneten Zustand passieren elektrisch geladene Teilchen das Ventil und es entsteht ein elektrisches Signal, das dann durch die Zelle verstärkt und letztlich an das Gehirn weitergeleitet wird. Das Protein STOML3 moduliert die Funktion des Ionenkanals Piezo2.

Neue Substanz wirkt auf STOML3, hemmt bestimmte mechanische Reizwahrnehmung

Die Forscher unterzogen STOML3 einem Wirkstoff-Screening, bei dem 35.000 verschiedene chemische Stoffe in groß angelegten In-Vitro-Experimenten getestet wurden. Sie fanden eine Substanz namens OB-1. OB-1 verhindert, dass sich mehrere STOML3-Proteine zusammenlagern und hemmt damit die Funktion des Proteins. Folgende elektrochemische Messungen an Zellen bestätigten: wenn das geschieht, bleibt der Ionenkanal Piezo2 geschlossen. Bei Mäusen hemmte die Chemikalie wirksam die Wahrnehmung leichter Berührungen. Unter dem Einfluss von OB-1 ließ die Empfindlichkeit der Tiere deutlich nach. Nach Abklingen der Wirkung des Wirkstoffs kehrte die normale Empfindlichkeit wieder zurück.

„Kollegen am MDC haben eine Reihe von Verhaltensexperimenten entwickelt, durch die die Mäuse sozusagen mit uns „sprechen“ konnten“, erklärt Prof. Lewin. „Es wurde jeweils eine kleine Menge der Substanz in die Pfote injiziert. Dann wurde die Pfote leicht berührt. Die Maus bekam eine Belohnung, wenn sie den Berührungsstimulus richtig erkannte.“

OB-1 hatte einen deutlichen Effekt auf Tiere mit neuropathischen Schmerzen, die durch Nervenschädigung oder Diabetes verursacht wurden. OB-1 verhinderte, dass diese Tiere Berührungsreize als schmerzhaft empfanden. Dies ist ein Hinweis darauf, dass STOML3 in der Tat den Piezo2-Kanal moduliert. Die Funktion von Piezo2 so zu dämpfen, wäre also eine Möglichkeit, die Krankheitssymptome zu behandeln.

Ein großer Schritt zur Behandlung neuropathischer Schmerzen?

„Die Ergebnisse sind aus vielen Gründen ermutigend“, erklärt Prof. Lewin. „Wir haben damit eine neue Therapiestrategie geschaffen, und zwar aus dem Verständnis der Mechanismen, die Berührungsempfindungen in Schmerzen umwandeln. Soweit wir bisher sagen können, beeinflusst die Substanz nur eine ganz spezielle Art von Rezeptoren, die sowohl mit STOML3-Proteinen als auch mit Piezo2-Kanälen ausgestattet sind. Sie dämpft die Wahrnehmung von Schmerzreizen so, dass andere, für das Tier wichtige Signale nicht beeinträchtigt werden. Und die Wirkung ist reversibel.”

Die Weiterentwicklung des Wirkstoffs zur medizinischen Behandlung werde lange dauern, sagt Lewin, aber irgendwann werde er bereit sein für Studien an menschlichen Probanden. Wenn diese ebenso positiv reagierten, wäre das ein großer Schritt zur Behandlung einer Nervenerkrankung, welche die Lebensqualität vieler Menschen derzeit sehr stark einschränke.

Originalveröffentlichung:
Christiane Wetzel1,10, Simone Pifferi1,9, Cristina Picci1,2, Caglar Gök1, Diana Hoffmann1,3,
Kiran K Bali4, André Lampe5, Liudmila Lapatsina1, Raluca Fleischer1, Ewan St John Smith1,6,
Valérie Bégay1, Mirko Moroni1, Luc Estebanez1,3, Johannes Kühnemund1, Jan Walcher1, Edgar Specker5, Martin Neuenschwander5, Jens Peter von Kries5, Volker Haucke5, Rohini Kuner4, James F A Poulet1,3, Jan Schmoranzer7, Kate Poole1,8,10 & Gary R Lewin1,3 (2016): „Small-molecule inhibition of STOML3 oligomerization reverses pathological mechanical hypersensitivity.“ Nature Neuroscience. doi:10.1038/nn.4454
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Quelle:
 
Kontakt:
Vera Glaßer
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft
Leiterin Abteilung Kommunikation (kommissarisch)
Tel.: 030 94062120
E-mail: vera.glasser@mdc-berlin.de

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