Lauschangriff auf die Sinne

02.06.2016

Neurobiologische Forschung will unter anderem verstehen, wie das Gehirn den unablässigen Strom von Sinnesreizen zusammenführt, interpretiert und angemessene Verhaltensreaktionen koordiniert. Wenn viele Arten sensorischer Eindrücke gleichzeitig eintreffen, müssen sie nach Priorität geordnet, verknüpft und in Hirnbereiche weitergeleitet werden, die für ihre Verarbeitung zuständig sind. Die neue Studie aus dem Labor von James Poulet hilft, diese grundlegenden und bislang ungelösten Fragen zu beantworten.

Um dieses System experimentell zu untersuchen, eignen sich bestimmte Hirnbereiche besser als andere: sie müssen einerseits einfach genug sein, um eingehenden Signale nachzuverfolgen, und andererseits komplex genug, um die unterschiedlichen Typen von Signalen auf dem Weg durch das Gehirn zu verfolgen.

Wen-Jie Zhao und Jens Kremkow aus dem Forschungsteam von Poulet untersuchten eine Region im Scheitellappen des Gehirns, den primär-sensorischen Kortex, der aus sechs Schichten von Nervenzellen besteht. Diese Hirnregion sammelt den „Input“ der Nerven, der aus verschiedenen Wahrnehmungssystemen der Maus stammt. Der Kortex ist auch wichtig für die Wahrnehmung von bestimmten Sinnesreizen bei Aktivitäten, etwa wenn das Tier ein Stück Futter berührt. Schließlich ist die Region auch an der Koordination bestimmter rascher Bewegungen beteiligt, die als Reaktion auf Sinnesreize entstehen.

Aufgrund der Gewebestruktur des Kortex vermutete man, dass die einzelnen Schichten Impulse unterschiedlich verarbeiten und sich untereinander koordinieren, um den richtigen Output zu erzeugen. Um das experimentell zu überprüfen, nutzten die Forscher die Nervenverbindungen zwischen der Vorderpfote der Maus und des Kortex. Indem die Forscher die Bewegungen der Pfote beobachteten, konnten sie willensgesteuerte Bewegungen des wachen Tiers und auch Reflexe untersuchen.

Die Wissenschaftler entdeckten, dass die abgefeuerten Signale von Nerven in den tieferen Schichten kaum Auswirkungen auf ihre benachbarten Zellen in derselben Schicht hatten. Frühere Studien hatten ergeben, dass die Nerven des Kortex der ruhenden Maus spontan Signale abfeuern und langsame Impulse mit hoher Amplitude erzeugen. Durch diese Signale synchronisieren sich einige Schichten des Kortex. Beim aktiven, sich bewegenden Tier verschwinden diese Aktivitätswellen, und die Synchronisation der Schichten geht verloren. Es wird angenommen, dass diese Unterschiede bestimmte mentale Zustände repräsentieren, die mit Erregung und Sinneswahrnehmung zu tun haben. Die neuen Ergebnisse aus Poulets Labor zeigen nun, dass sich ein einzelner Reiz auf die Nervenzellen der unterschiedlichen Schichten auch unterschiedlich auswirkt – denn wenn sich der Gesamtzustand des Gehirns änderte, behielten die einzelnen Schichten ihre charakteristischen Eigenschaften.

Wie die Forscher feststellten, feuern bei einem sich aktiv bewegenden Tier mehr Neuronen in den tieferen Schichten als in den näher an der Hirnoberfläche gelegenen. Zwar kamen in allen Schichten neue Impulse an, die sich zu Sinnesreizen zurückverfolgen ließen, die Neuronen jedoch feuerten leicht zeitversetzt. Dies könnte wichtig sein für bestimmte Aspekte der Reizverarbeitung: etwa die wahrgenommene Intensität eines bestimmten Stimulus oder auf welche Weise die Erinnerung daran gespeichert wird.

Die neue Studie ist ein erster Schritt hin zum Verständnis grundlegender, offener Fragen bei der Signalverarbeitung. „Um mehr über die Verbindung zwischen Strukturen und Funktionen des Gehirns zu erfahren, müssen wir beobachten, wie Eigenschaften und Aktivitäten einzelner Nerven und Gewebe sich unter verschiedenen Verhaltensumständen ändern“, sagt Poulet. „Mithilfe der genau kontrollierten Pfotenstimulation konnten wir in verschiedenen Schichten eines Gewebes Messungen vornehmen, während der Verarbeitung eines Reizes und während die Maus herumlief oder sich ausruhte.“

Eines der Schlussfolgerung aus der Studie ist, dass Hirnfunktionen nicht nur von der Anordnung der Nerven oder der physischen Gesamtstruktur abhängen, die unter wechselnden Bedingungen gleich bleiben. Vielmehr schaffen Unterschiede im Hirngewebe ganz spezielle Umgebungen für Nerven, in denen die Bedeutung der von ihnen erzeugten Impulse verändert wird. Zuhören können die Forscher diesen Gesprächen zwischen den Zellen nun, aber es wird noch viele weitere kontrollierte simultane Messungen brauchen, um zu verstehen, was gesagt wird.

Originalveröffentlichung:
Wen-Jie Zhao1,2, Jens Kremkow 1,2,3, and James F.A. Poulet1,2 (2016): „Translaminar cortical membrane potential synchrony in behaving mice.“ Cell Reports. Artikel in Cell Reports
1Abteilung für Neurowissenschaften, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC), Berlin; 2Cluster of Excellence NeuroCure, Neuroscience Research Center, Charité – Universitätsmedizin Berlin. 3Institut für theoretische Biologie, Humboldt-Universität zu Berlin.
Wen-Jie Zhao und Jens Kremkow haben gleichermaßen beigetragen.
 
Quelle:
 
Kontakt:
Vera Glaßer
Leiterin Abteilung Kommunikation (kommissarisch)
Telefon: 030/94062120
E-Mail: vera.glasser@mdc-berlin.de

Zurück